Gedanken zum 30.Jahrestag der UN-Kinderrechtskonvention

Es gibt keine großen Entdeckungen und Fortschritte, solange es noch ein unglückliches Kind auf Erden gibt.“ (Albert Einstein)

Beim Anblick eines neu geborenen Kindes werde ich jedes Mal von einem beglückenden Staunen erfasst. Ich stelle mir vor, dass ich selbst einmal so unbeholfen in die Welt geschaut und mich unter den Fittichen meiner Mutter so richtig wohl gefühlt habe. Hirnforschung und Pränatalpsychologie zeigen eindrucksvoll, dass vieles, was den Menschen später ausmacht, nicht nur angeboren und anerzogen, sondern bereits während der Schwangerschaft erlernt wurde. Die Bindungsanalyse stellt fest, dass die Gefühle der Mutter physiologische Reaktionen im Körper auslösen, die das noch ungeborene Kind absolut mitbekommt. Besonders deren Stimme oder andere Geräusche (Musik, Rhythmen…), oder der Geschmack sind ihm vertraut, bevor es das Licht der Welt erblickt. Vorgeburtliche Erfahrungen (positive wie negative) werden gespeichert, und bleiben nicht ohne Inzidenz auf das spätere Leben.

Diese Erkenntnisse sollten von werdenden Eltern, aber auch von Politik und Gesellschaft berücksichtigt und beherzigt werden.

Mehr noch! Geradezu faszinierend ist die Tatsache, dass jeder Mensch ab der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle seine eigene DNA, Blutgruppe und genetische Veranlagung besitzt, bevor sich die Zellen mit unglaublicher Geschwindigkeit millionen- und milliardenfach in dem einen, unverwechsel- und unaustauschbaren wunderbar geordneten Wesen vermehren. Carlo Casini spricht bei dieser Prokreation aus dem Nichts von dem eigentlichen Big Bang des Lebens, das sich bei der Entstehung jedes Menschen wiederholt. Für Gläubige sind Vater und Mutter nicht die Schöpfer, sondern Instrumente im Schöpfungsplan Gottes, weshalb jene übrigens keine Kinder „machen“, sondern „bekommen“. Das Göttliche im Menschen verleiht diesem die Würde, mit der der Respekt vor dem Leben erst begründet ist.

Auch Agnostiker stimmen der in den verschiedenen Menschenrechtserklärungen festgehaltenen unantastbaren Würde des menschlichen Lebens von Anfang an prinzipiell zu. So heißt es in der Präambel der internationalen Kinderrechtskonvention vom 20. November 1989, dass „das Kind wegen seiner mangelnden körperlichen und geistigen Reife besonderen Schutzes und besonderer Fürsorge, einschließlich eines angemessenen rechtlichen Schutzes vor und nach der Geburt bedarf“.

Leider sind weltweit gerade Kinder die Leidtragenden einer Erwachsenenwelt, die deren Bedürfnisse missachtet oder, schlimmer noch, sie ausbeutet oder missbraucht. Hunger, Unterernährung, Analphabetismus, Seuchen, Kinderarbeit, Kindersoldaten, Flucht, Entführung, Drogenkonsum, Prostitution Minderjähriger und Kinderpornografie gehören zum Schrecklichsten, was Kindern widerfahren kann. Was keinesfalls bedeutet, dass die Menschen in den betroffenen Ländern bösartiger wären als anderswo, oder dass es dort keine Fortschritte gäbe. Das Elend liegt auch an den wirtschaftlichen, ökologischen, sozialen und politischen Schieflagen, die die Wohlhabenden in unserer ungerechten Weltordnung de facto mit verschulden.

In den reicheren und hochzivilisierten Gegenden gibt es die meisten dieser Gräuel freilich kaum. Im Gegenteil: bei uns sind Körperstrafen eher tabu, auf Hygiene, gesunde Ernährung und gute Kleidung wird hohen Wert gelegt. Soziale und kulturelle Diskriminierung wird bekämpft. Freizeitangebote gibt es in Hülle und Fülle. Erziehungswissenschaften und motivationsfördernde Pädagogik werden ständig weiterentwickelt. Kindern und Jugendlichen werden ihre Rechte mitsamt Anlaufstellen („Ombudsman“…) eingehend unterbreitet. Für Kinder mit Behinderung verbessern sich die Pflege und Obhut zusehends, zumindest in Luxemburg.

Trotzdem stellen wir in unserer individualistisch-utilitaristisch geprägten Gesellschaft bedenkliche Entwicklungen fest. Das ungeborene Leben genießt immer weniger Schutz. Abtreibungen werden bewusst banalisiert, ja sogar als Recht gefeiert.

Das kapitalistische Wirtschaftsmodell erlaubt es Eltern immer weniger, ihre Kleinsten selbst zu erziehen. Kitas schießen wie Pilze aus dem Boden. Wer aber fängt das stille Leiden eines(er) introvertierten Zwei- oder Dreijährigen auf, wenn die Mutter oder der Vater während acht oder mehr Stunden nicht da ist, um es zu trösten? – Jedes Kind braucht Vertrauen und Geborgenheit, jemanden, der auch versteht, was es nicht auszusprechen vermag.

Von Pestalozzi stammt die schöne Feststellung: „Eine Mutter ist der einzige Mensch auf der Welt, der dich schon liebt, bevor er dich kennt.“

Was ist mit der Leihmutter, die sich zwingen muss, diese Liebe in ihr zu unterdrücken? Was mit dem Kind, welches nach der Geburt einer anderen anvertraut wird, und später vielleicht nie erfährt, wer seine wirklichen Eltern und Vorfahren sind? Wie fühlt sich ein Kind, wenn es feststellt, dass es zwei Mütter und keinen Vater hat, oder zwei Väter und keine Mutter? Dürfen diese Fragen in unserer „fortschrittlichen“ Zeit überhaupt noch gestellt werden? – Schließlich werden die Kleinen ja so früh wie möglich „kindgerecht“ (sic) in die sexuelle Praxis und Vielfalt eingeführt, damit das alles kein Problem mehr darstelle… Nach und nach sollen sie Dutzende von sexuellen Orientierungen in Ordnung finden, und sich selbstreflektiert und kritisch mit allen (?) philosophischen und religiösen Richtungen zurechtfinden können. Weitergabe elterlicher Werte sind als „Determinismus“ verpönt, weil die Kids ja alles autonom für sich selbst zu entdecken und zu entscheiden haben. Wie ein Kind all dies verarbeiten und verkraften soll, steht auf einem andern Blatt.

Die meisten Eltern und Erzieher sind äußerst vorsichtig, wenn es um die Sicherheit ihrer Kinder geht. Hier muss gefragt werden, ob die Behütung nicht manchmal übertrieben wird. Wir sind früher ohne Handy, aber mit Luftrevolver als begeisterte Cowboys in der Natur herumgestrolcht, auf Bäume geklettert, haben Dinge getan, die heute als unzumutbar gelten. Zum Teil waren sie es ja auch. Doch ist es nicht wichtig, dass Kinder Kernkompetenzen wie Selbstsicherung, Selbstvertrauen, Selbstwertgefühl im freien Umgang mit ihresgleichen und einem Minimum an Risiken entwickeln?

Was aber dann den Zugang zu den Medien betrifft, stellt man verdutzt eine allgemeine Fahrlässigkeit fest, die sich nur durch schiere Ohnmacht erklären lässt. Der ständige und ungefilterte Konsum des Internet via Tablet und Smartphone, auch des Nachts, ist vielfach längst außer Kontrolle geraten. Mangel an Bewegung und Schlaf, Cybermobbing, Gewinnspiele, Abofallen und Abzocke, Porno, bedenkliche Chats führen gerne zu psychischen Belastungen und Beziehungsstörungen, welche, mit Schulstress und Weltschmerz gepaart, manche schon früh in die Depression oder den Rausch betörender Discos, des Alkohols oder des berüchtigten Cannabis „zum Freizeitgebrauch“ (sic) treiben.

Es gibt aber auch Hoffnungsschimmer. Denken wir an die wertvolle Arbeit der auf Kinder spezialisierten NGOs, an die sinnvollen pädagogischen Projekte in Schule und Vereinen (100 Jahre Pfadfinder), an die Kreativität, die Integrierfähigkeit und Unvoreingenommenheit vieler Kinder, an das steigende soziale und ökologische Bewusstsein großzügiger Jugendlicher, an die zahlreichen interessanten Studien- und Arbeitsopportunitäten…

Möge dieser Beitrag zum ganzheitlich-vernetzten Nachdenken über die Kostbarkeit, die Zerbrechlichkeit und Hilfsbedürftigkeit, aber auch über das erstaunliche Potenzial jedes Kindes zuhause und draußen in der Welt anregen, damit letztlich das Schöne, das Gute und das Wahre, die Menschheit in eine hoffnungsvolle und lebenswerte Zukunft führt.

André Grosbusch

Ettelbruck

25.11.2019

Der Autor ist Präsident der „Vie Naissante“.

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